09.05.2021
Rogate

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde,

„Hey, Du glaubst doch an Gott.“ Mit breitem Grinsen hielt mich ein Junge fest am Arm. Eine Schar von weiteren Jungs hatte mich umringt und lies an ihren Absichten keinen Zweifel. Der Anführer wiederholte seine Frage in etwas bedrohlicherem Ton. „Ja, ich glaube an Gott.“ Der Junge ließ meinen Arm los und schaute mich herausfordernd an: „Dann bete doch mal!“ Ich erklärte ihm, dass ich nicht beten werde. Jedenfalls nicht aus Zwang und schon gar nicht zu ihrer Belustigung.

Solche Szenen haben viele Christen in DDR-Zeiten erlebt. Mir ist in Erinnerung geblieben, dass, scheinbar auch für diese völlig unkirchlichen Jungs der Zusammenhang von Glaube und Gebet völlig klar war. Vielleicht auch klarer als es mir bewusst war.

Dabei ist doch mein Gebet logische Folge meines Glaubens an Gott. Aber was ist eigentlich beten? Ab wann ist mein reden mit Gott ein Gebet?

Der Text, der uns für den heutigen Sonntag zum Nachdenken aufgegeben ist, redet von dem Weg des Gebetes. Er redet von denen, die beten und wie sie beten.

„Gott hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. Er verachtet das Flehen der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie ihre Klage erhebt. Laufen ihr nicht die Tränen die Wangen hinunter, und richtet sich ihr Schreien nicht gegen den, der die Tränen fließen lässt? Wer Gott dient, den nimmt er mit Wohlgefallen an, und sein Gebet reicht bis in die Wolken. Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost, und er lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt und den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält.“ Jesus Sirach 35,16-22a

Für mich beginnt Gottes Wort für den heutigen Tag mit einer unglaublichen Zusage: „Gott hilft!“ In mein Klagen, in meine Unzufriedenheit, in all meine Verzagtheit und meinen Unglauben spricht Gottes Wort: „Gott hilft!“ Und es sind Tränen, Klagen und alles, was das Herz schwer macht. All das ist Beten.

Gehört, habe ich davon. Manchmal auch eigene Erfahrung damit gemacht. Nicht einmal die, die nicht glauben, reden ohne zu zweifeln von Zufall. Es könnte wahr sein. Es ist wahr! So sagt die Bibel. Kein Gebet geht verloren. Es hat eine ganz selbständige Funktion. Das Gebet steigt auf zu Gott. Es dringt durch die Wolken. Wolken bringen nicht nur den notwendigen Regen. Sie versperren auch manchmal die Sicht. Das, was wir nicht durchschauen können, ist kein Hindernis für unser Gebet. Doch es scheint, einen Weg zu geben. Und solange es auf dem Weg ist, bleibt es ohne Trost. Ohne Trost bleibt auch der Beter.

Die Armen, die Witwen und Waisen, die Unterdrückten und auch die Demütigen und die, die Gott dienen. Es ist eine Trostlosigkeit auf Zeit. Es wäre zum Verzweifeln, wenn nicht am Anfang steht: „Gott hilft!“

Der Text steht im Zusammenhang mit Gottes Gericht. Das kann mir auch Angst machen. Denn ich bin nicht unterdrückt. Ich bin nicht arm. Was ist mit den Gebeten, die sich gegen mich und meinen Lebensstil richten? Mit den Gebeten derer, die an den Grenzen Europas verzweifeln? Deren letzter Augenblick der Untergang ihres Lebens in den Fluten des Mittelmeeres ist, an dem wir eigentlich Urlaub machen wollen. Bin ich der, der die Tränen der Anderen fließen lässt?

Was und wie soll ich beten?

Sören Kierkegaard sagt mit Blick auf sich selbst:

„Als mein Gebet
immer andächtiger und innerlicher wurde,
da hatte ich immer weniger und weniger zu sagen.
Zuletzt wurde ich ganz still.
Ich wurde,
was womöglich noch ein größerer Gegensatz
zum Reden ist,
ich wurde ein Hörer.
Ich meinte erst, Beten sei Reden.
Ich lernte aber,
daß Beten nicht bloß Schweigen ist,
sondern hören.
So ist es:
Beten heißt nicht sich selbst reden hören.
Beten heißt:
Still werden und warten,
bis der Betende Gott hört.“

Dieses Warten, dieses Aushalten der Leere, fällt uns in der Regel schwer. Der heutige Text redet davon, dass mein Gebet nicht verloren ist, sondern nicht nachlässt, bis Gott es hört. Gott im Geheimnis des Schweigens, im Geheimnis des Wartens. Im Geheimnis der Demut zu erfahren, scheint Beten zu sein. Aber auch annehmen, dessen was Gott mir sagt.

Vielleicht liegt hier der Sinn des Knieens zum Gebet. Im hebräischen gibt es ein Wort dafür, wenn Kamele sich hinknieen, um ihre Last aufzunehmen. „Barach“ bedeutet aber auch, Gott loben, singen und beten.

Vielleicht muss ich bereit sein, im Gebet auch die Last aufzunehmen, die Gott im Hören auf mein Gebet auf mich legt. Ich richte mich zu schnell damit ein, dass Gott mein Gebet so erfüllt, wie ich es sage. Ungeduldig und vergesslich. So werde ich taub für seine Antwort, weil sie mir vielleicht nicht gefällt. Richtiges Beten ist auch die Bereitschaft zum Hören. „Gott hilft!“. Am Ende steht die Erlösung von meinen Lasten.

Ich werde beten. Weil ich an Gott glaube. Jener Junge hatte recht. „Glaubst du an Gott? Dann bete!“

Nicht aus Zwang, nicht aus Spaß. Sondern weil Er mein Gebet hört. Weil mein Gebet zu Ihm dringt. Zu meinem Gott und Erlöser. AMEN

Michael Wegner
- Superintendent -