15.05.2021
Exaudi 2021

Liebe Schwestern und Brüder,

warten auf den heiligen Geist. Der heutige Sonntag beschreibt eine Zeit zwischen der Verheißung des Heiligen Geistes und der Erfüllung dieser Zusage am heiligen Pfingstfest. Sozusagen einen Weg durch die Wüste, an dessen Horizont schon das Bild des gelobten Landes auftaucht.

Sehnsucht erfüllt die Herzen und lässt unsere Gedanken schweifen. Geist der Wahrheit ist uns angekündigt. Aber was ist Wahrheit? Es ist eine Frage, welche die Welt und uns immer wieder neu umtreibt. Wahrheit erscheint, gerade auch in unseren Tagen, immer wieder subjektiv geprägt. Gibt es mehrere Wahrheiten? Die Diskussionen in Gesellschaft und Politik scheinen geprägt davon, nur eine Wahrheit zu kennen. Meist ist es die Eigene.

In Jesus Christus wird Gott Mensch in seinem Volk, dem Volk Israel. So zeigt er seine Gegenwart in der Welt. Aber schon von Anfang an wird in den Geschichten der Bibel deutlich, dass Gott die Sehnsucht der Anderen aufnimmt. Er segnet die moabitische Ruth, er heilt den Syrer Naeman. Er heilt den Knecht des römischen Hauptmanns. (Er nimmt sich der kananäischen Frau an und heilt ihre Tochter.) Heute bezeugen das Volk Israel und alle Christen gemeinsam die Gegenwart Gottes auf Erden. Auf unterschiedliche Weise und in allen verschiedenen Sprachen.

Wahrheit?

Seit meiner Kindheit habe ich immer ein oder auch mehrere Pferde gehabt. Sie sind anders als ich. Schon das zu erkennen, war wichtig. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass sie ihre Umwelt ganz anders als ich wahrnehmen. Das liegt unter anderem an ihren Augen. An deren Stellung seitlich am Kopf und an dem Spektrum, was sie sehen können. Ihre Welt sieht ganz anders aus als meine. Durch die Reflexion des Lichtes können sie z.B. auch in Dunkelheit gut sehen. Dort, wo ich halb blind einher stolpere, gehen sie sicheren Schrittes ihren Weg. Da sie wiederum in der Ferne nicht gut sehen, ist es meine Aufgabe vorausschauend zu denken. Auch ihre Farben sind anders als meine. Forscher haben herausgefunden, dass sie in der Hauptsache blau und gelb gut erkennen. Ob etwas schwarz oder rot ist, spielt in ihren Augen keine Rolle. Es wäre vergeblich, ihnen einen Unterschied beibringen zu wollen. Aber als Partner in einer gemeinsamen Welt ergänzen wir uns gut. Es macht Spaß, gemeinsam die Welt zu erkunden.

Geist der Wahrheit? Vielleicht will uns Gottes Geist dahin leiten, dass wir unsere Wahrnehmung nicht sofort als die alleinige Wahrheit begreifen. Für mich ist dies ein wichtiger Unterschied zwischen lebendigem Glauben und Ideologien. Zwischen Weltanschauung und Vertrauen. Habe ich meine Weltanschauung fest im Kopf, besteht die Gefahr, die Welt um mich herum nicht mehr anzuschauen. Ich nehme dann nicht wahr, was ich nicht sowieso schon wusste. Aber das Ungedachte, Unbekannte als Möglichkeit zu begreifen, macht die Lebendigkeit des Glaubens aus. Nur weil etwas in mein bisheriges Weltbild nicht passt, muss es nicht falsch sein. Es ist gut, meine Wahrnehmung zu öffnen für Dinge, die ich bisher nicht so gesehen hatte.

Die Bibel ermutigt uns immer wieder, Vertrautes, Gewohntes zu hinterfragen. Der Mensch, der meine Hilfe zu brauchen scheint, könnte vielleicht auch der sein, dessen Hilfe ich morgen dringend benötige. Der Mensch, der mir heute fremd ist, ist vielleicht bald einer, den ich nie wieder aus meinem Leben lassen will. Meine Frau kannte ich nicht, bevor ich mich in sie verliebte. Diese Erfahrung haben Viele mit ihren Partnern gemacht.

Ich bin gern in der Kirche. Weil sie ein Ort ist, an dem so viele verschiedene Menschen zusammenkommen. Weil es unzählige Varianten dessen gibt, wie wir glauben. Gott spricht zu uns. Auch zu den Anderen. Die Farben ihres Glaubens helfen mir, mich zurecht zu finden. Andere Sichtwinkel bringen Licht in meine Dunkelheit. Meine Sicht kann auch anderen Orientierung geben.

„Herr, höre meine Stimme, wenn ich rufe.“ Dieses Wort aus dem Psalm hat dem heutigen Sonntag seinen Namen gegeben. Dabei geht es um die Bitte um seinen Geist. Es ist der Geist, der uns lehrt, Gott zu hören, statt ihm zu sagen, was er unserer festgefügten Meinung nach zu tun hätte.

Ich bin gern in einer Kirche, die Gott um seinen Geist bittet. Weil sie weiß, es gibt immer Sichtweisen und Fehler zu korrigieren. Weil sie weiß, dass wir immer wieder neu Orientierung brauchen. Gottes Geist weht, wo er will. Vielleicht auch in der Meinung der Anderen. Vielleicht auch in dem, was mir noch fremd erscheint. Es ist eine freie Welt, in der ich lebe. Die Bibel erzählt von ihr. Von der Welt auch der Anderen. Ich bin gern in der Kirche. Weil sie auch ein Ort des Hörens ist. Auf die Vielfalt der Stimmen. Erst verschiedene Töne lassen eine Melodie zu einem Lied werden. Zu einem Lied, das Gott lobt. Amen.

Michael Wegner
- Superintendent -