23.03.2021
Palmarum

Liebe Schwestern und Brüder,

„Ich glaube nur, was ich sehen kann!“ Der Fahrer des Autos, welches mich mitgenommen hatte, blickte triumphierend zu mir herüber. Er fühlte sich als Mensch, welcher die Dunkelheit des Mittelalters und seine Folgen hinter sich gelassen hatte. Die wissenschaftliche Weltanschauung des Marxismus/Leninismus bereitete ihm keine Probleme. Der real existierende Sozialismus war rechts und links von der Straße in Form von LPG-Gebäuden und Industrieanlagen gut sichtbar. Der Fahrer war mit den Zuständen nicht immer zufrieden. Aber dass die Zukunft genau so aussehen würde, bezweifelte er nicht. Als ich ihm nicht zustimmen wollte und uneinsichtig darauf bestand, dass es Gott wirklich gäbe, wurde er unwillig und sagte: „Ich fahre jetzt gegen den Baum. Dann wirst du sehen, was los ist.“ Etwas später bin ich gesund und wohlbehalten im Dorf meiner Eltern ausgestiegen. Was glaube ich…?

der Glaube ist…? Wie würden Sie diesen Satz weiterführen? Gibt es überhaupt den Glauben? Ist er nicht doch eine Äußerung meiner eigenen Individualität? Und ist hier nicht die Bandbreite fast unendlich? Wenn Gott mich annimmt, wenn er zu mir spricht, ist dann nicht logischerweise mein antwortender Glaube anders als der meines Mitmenschen?

„Der Glaube ist eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. In diesem Glauben haben die Alten Gottes Zeugnis empfangen.“

Zuversicht auf das, was ich hoffe. Es sind meine Hoffnungen. Getragen vom Vertrauen, dass Gott in dem Unvorhergesehenen, in dem, was ich entweder nicht zu hoffen gewagt hatte, oder was ich nicht erwartet hatte, an meiner Seite steht, dass er es ist, aus dessen Hand ich meine Zeit und alle Dinge meines Lebens nehme. Zuversicht hat etwas mit sehen zu tun. Es ist der Blick auf ein zukünftiges Bild von dem man glaubt, dass es sich erfüllt. In seiner Bedeutung ist Zuversicht immer positiv. Ein christliches Leben in Zuversicht ist ein frohes Leben, weil die Hoffnung lebt, dass in der Zukunft etwas Gutes eintreten wird. Erwartung des Guten, so könnte man auch den ersten Teil überschreiben.

Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht? Mein Fahrer war nicht von Zweifeln geplagt. Was man nicht sehen kann, gibt es eben auch nicht. Seine Zuversicht schöpfte er aus dem Sichtbaren. Ich denke immer wieder an ihn. Wie mag es ihm nun gehen, wo sich seine sichtbare Welt so verwandelt hat?

Welche Rolle spielt das Nichtsichtbare in meinem Leben? Steht die Hoffnung auf das Sichtbare nicht an der Spitze meines Wünschens? Ist es nicht allzu menschlich, wenn, wie im Text für den Sonntag Lätare, Griechen nach Jerusalem kommen, um Jesus zu sehen? Steht hinter unserem Wunsch die Zukunft zu erforschen, nicht der Wunsch, irgendetwas sichtbar werden zu lassen? Wie sind unsere Erfahrungen mit dem Nichtsichtbaren? Das meine Frau mich liebt, sehe ich nicht nur mit meinen Augen, sondern vielleicht eher mit meinem Herzen. Kein Mensch hat Gott gesehen. Und doch ist meine Beziehung zu ihr, meine Beziehung zu Gott, von einer nichtsichtbaren Wirklichkeit getragen. Immer wieder halte ich Ausschau nach Zeichen und Erfahrungen dieser Liebe. Ein Lächeln, ein gutes Wort, eine flüchtige Berührung oder auch die Begegnung mit einem Wort der Bibel, einem Gedanken im Gebet, sind Erfahrungen, die mich mit Zuversicht erfüllen. Zuversicht für meine Liebe und Zuversicht auf Gottes Weg mit mir.

Der Palmsonntag führt uns den Einzug Jesu in Jerusalem vor Augen. Eine Menschenmenge geht ihm entgegen. „Gelobt sei der da kommt…“ Aber Jesus geht nicht einer sichtbaren Herrschaft entgegen, sondern er nimmt das Leiden der Welt auf sich. Sein Weg führt ans Kreuz. Die jetzt jubelnde Menge wird Tage später seinen Tod fordern. Palmsonntag lässt sein unwirkliches Licht auf unser menschliches Sein fallen. Palmsonntag ist ein Tag der Nachdenklichkeit über unsere Wünsche und Hoffnungen. Wie gehen wir mit denen um, die unsere Hoffnungen nicht erfüllt haben? Stellen wir unsere Hoffnungen in Frage oder jene, die sie nicht erfüllt haben?

Palmsonntag verstellt mir den Blick. Wir können den Ostermorgen nicht sehen. Der Hügel von Golgatha, der Tod Jesu, die Schuld der noch jubelnden Menge, türmen sich wie ein Berg vor mir auf. Vielleicht ist es aber gerade die Nichtsichtbarkeit des Auferstehungsmorgens, die meine Zuversicht wecken will. AMEN

Michael Wegner
- Superintendent -