Gedanken zur Nacht

Die alte Dame sitzt am Fenster. Sie schaut hinaus. Inzwischen ist es Winter geworden und der erste Schnee ist gefallen. Erinnerungen steigen in ihr hoch. Früher sind sie bei den ersten Flocken raus und haben einen Schneemann gebaut. Das geht heute nicht mehr. Jetzt wohnt sie hier im Seniorenheim. Sie greift nach dem Rollator, der neben ihrem Stuhl steht.

Früher ist sie nach getaner Arbeit gern zum Tanz gegangen. Es war harte Arbeit.

Landwirtschaft. Sie lebten von der Hand in den Mund. Der Tanz war da eine willkommene Abwechslung. Aber heute?

Die alte Dame sitzt am Fenster. Dort ist ihr Platz, wenn im Altenheim Gottesdienst gefeiert wird. Einmal im Monat kommt der Pfarrer. Und bringt einen wunderbaren Gitarrenspieler mit. Dann erzählen sie von Gott und singen die alten Lieder. Heute hat der Pfarrer plötzlich eine Schaukel in der Hand. Und der Gitarrenspieler singt:

„Oma, willst du schaukeln? Dann gebe ich dir Schwung! Ja, komm und gib mir Schwung mein Herz, dann werd’ ich wieder jung.“

Erst singen sie nur ganz zaghaft, dann immer lauter. Auch die alte Frau singt mit. Immer und immer wieder singen sie den Refrain: Oma, willst du schaukeln. Sie kommen miteinander in Schwung, jetzt leuchten ihr die Augen. Und die alte Frau wippt leicht auf dem Stuhl. Und fühlt sich wieder leicht und frei und ihr Blick fällt aus dem Fenster ins Weite.

Wann haben sie das letzte Mal geschaukelt? Eine gute Nacht wünscht Pfarrer Ramón Seliger, evangelisch und aus Weimar