28.11.2023
Mir wird nichts mangeln

Wenn ich Geburtstags-Besuche mache, weiß ich nie so genau, was mich erwartet. Und wenn jemand neunzig Jahre alt wird, bin ich auf alles gefasst: Pflegebett, Geruch nach Baldrian und so.

Aber als ich Herrn Meyer zum neunzigsten Geburtstag besuche, ist es ganz anders:

Ich komme die Treppe hoch und - da steht er schon vor mir, im hellen Anzug, sehr gepflegt. Und mit vergnügtem Gesicht. Ich gratuliere ihm und überreiche meine Blumen. Und er bittet mich hinein in seine Wohnung.

Es duftet nach Kaffee und nach Sauberkeit. Mir wird ein kleines Glas Sekt eingegossen. Wie geht es Ihnen denn, frage ich. Und denke: Gleich wird es losgehen mit der Aufzählung der Beschwerden.

Herr Meyer zieht sich einen Stuhl heran, schaut mich ruhig an und beginnt: „Mir fehlt...“ sagt er, „mir fehlt die Kraft ...“

Ich nicke verständnisvoll. Atme innerlich tief durch, um meinen Geduldsfaden ein wenig zu verlängern. Aber es folgt gar kein Leidenskatalog! Herr Meyer schaut mich ruhig und freundlich an. Und vollendet nun seinen Satz: „Mir fehlt die Kraft zum Klagen.“

Ich muss lachen. So ein schöner Satz! Und so ein zufriedener Mensch!

Dabei war sein Leben gar nicht so rosig: Er hatte ja mal die Stasi am Hals. Die kleine Firma ging krachen. Und seine Frau lebt schon seit einigen Jahren nicht mehr.

Aber da sitzt er und lächelt. Ihm mangelt es an nichts. Vor allem nicht an Dankbarkeit.

 

Eine unbeschwerte Nacht
wünscht Angela Fuhrmann, ev. Pfarrerin in Gotha