16.05.2022
Erinnern und Vergeben

Er erkennt ihn sofort: Das ist doch Herr Müller, der Staatsbürger-Kunde-Lehrer! Mein Gott, wie lange das her ist...  

Steffen schiebt die Tür auf und stellt den Werkzeug-Kasten in die Nasszelle. Schaut dann zum Waschbecken - ja hier tropft es. Er holt den Schraubenschlüssel und sieht sich den Schaden näher an. 

Der Müller, das gibt’s doch nicht! Dass der hier im Pflegeheim gelandet ist! So schlecht scheint es ihm aber nicht zu gehen. Nur das Hörgerät, aber na ja, in dem Alter...  

Mein Gott, wie lange das her ist! Steffen erinnert sich an endlose Schulstunden. Mit den ewig gleichen Floskeln von Kapitalismus und Klassenfeind. Dass das überwunden werden muss durch den Kampf der Arbeiterklasse und so.   

Steffen schraubt den Wasserhahn ab. Mit dem Müller war nicht zu spaßen. Sie haben ihn gefürchtet damals. Steffen fällt ein, wie er sich als Fünfzehnjähriger eine Bemerkung nicht verkneifen konnte. Und die Banknachbarin nicht mehr aufhören wollte mit Kichern. Da gab´s ein Donnerwetter! Und eine Verwarnung.  

Als der Hahn repariert ist, setzt er sich für einen Moment zu dem alten Herrn. Laut und überdeutlich fragt er: Herr Müller, kennen Sie mich noch? Ich bin der Steffen! Sie waren doch mal mein Stabü-Lehrer  

Ein unsicheres Zucken in den alten Augen, dann die Frage: Und jetzt wollen sie mich wohl fertig machen?! 

Doch Steffen schüttelt den Kopf und klopft ihm zum Abschied freundlich auf die Schulter: Mein Gott! Das war vor über dreißig Jahren, das ist vorbei!   

Klasse, oder?  

 

So ein gutes Gedächtnis und so ein Herz, das leicht vergeben kann,  

wünscht sich und Ihnen Angela Fuhrmann, 

evangelische Pfarrerin in Gotha