10.12.2021
Das Volk, das im Finstern wandelt

Sie steht am Fenster und sieht in die Dunkelheit hinaus.
Der Tag hat Spuren hinterlassen bei Ulrike.
Erst die schwere Arbeit, jetzt das Ziehen im Rücken.
Dazu die beiden Kinder zu Hause in Quarantäne, mal wieder.

Sie hat keine Kraft mehr.
Es heißt, die Schulen bleiben offen –
Inoffiziell sieht die Welt seit Wochen anders aus:
Krankheit und Quarantäne wechseln sich seit Wochen ab,
jedes noch seine kleine bisschen Alltag hat sich aufgelöst.
Dazu die bange Frage: Wie lange noch?

Jetzt steht Ulrike am Fenster und sieht hinaus in die Dunkelheit.
Da kommt die große Tochter herein,
sie probt den Text für das kleine Krippenspiel.
Weihnachten steht vor der Tür.

Jetzt steht sie in der Küche und liest aus dem Buch Jesaja.
„Das Volk, das im Finstern wandelt,
sieht ein großes Licht,
und über denen,
die da wohnen im finstern Lande scheint es hell.“

Und dann ist es still.
Und Ulrike hält die Luft an.
Ja, mit der Finsternis kennt sich Ulrike aus.
Davon hat sie mehr als genug.
Es gibt Tage, da wird es gar nicht richtig hell.
Ganz langsam atmet sie aus.

Jetzt läuft Anna, die kleine Tochter, draußen über den Hof.
Sie läuft mit ihrer Laterne und singt:

„Tragt in die Welt nun ein Licht,
sagt allen fürchtet euch nicht.
Gott hat euch lieb, groß und klein,
seht auf des Lichtes Schein.“

Ja, in das Licht schauen.
Nicht nur immer in die Dunkelheit.
Das Licht ins Herzen hineinfunkeln lassen.
Dann scheint es hell.

Eine gute Nacht wünscht Pfarrer Ramón Seliger, evangelisch und aus Weimar