Gedanken zur Nacht

Heute ist Jo‘s Geburtstag.
Er wird 94 Jahre alt.
Mit einem Blumenstrauß und einer Karte mache ich mich auf den Weg.

Auf dem Treppenabsatz empfängt er mich wie immer mit einem breiten Lächeln.
Er winkt mich herein.
Eine Tasse Kaffee und ein Stück Eierschecke.
Die gibt es nur zum Geburtstag.
Zwischendurch spazieren wir durchs Leben.
Und Jo erzählt.
Die unbeschwerte Kindheit in den Wäldern.
Dann der Krieg. Eine schwere Zeit.
Dann Jahre des Aufbruchs.
Die Liebe seines Lebens.
Beim Tanzen hat er sie kennengelernt.
Tanzen war ihr Leben!
Bis auf die Bühne des Deutschen Nationaltheaters haben sie es damit gemeinsam geschafft.
Zuletzt hat er mit ihr noch im Rollstuhl getanzt.
Vor wenigen Jahren ist seine Frau verstorben,
gemeinsam stand ich mit Jo an ihrem Grab.

Jetzt legt Jo noch einmal die Platte mit ihrer Lieblingsmusik auf.
Langsamer Walzer.
Und Jo beginnt langsam zu tanzen.
Filzpantoffel streifen über den Teppich.
Behutsame, tastende Schritte.
Er kann es noch immer.

Jo atmet tief ein, er hält kurz inne.
Wer führt da eigentlich?
Tanzt da das Leben mit ihm? Gott selbst?
Er atmet langsam aus.
Ja, Gott selbst.
Er führt diesen Tanz und sein Leben,
auch dann, wenn Jo einmal nicht mehr tanzen können wird.

Danke, Jo! Sagt Pfarrer Ramón Seliger, evangelisch und aus Weimar