22.11.2018
Das Leben vor dem Tod
„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden“, dieser Vers aus unserer Bibel steht für mich über dem Sonntag, den wir Ewigkeitssonntag oder gebräuchlich Totensonntag nennen. Es ist der Sonntag, an dem in unseren Kirchen der Verstorbenen gedacht wird. Wenn Menschen an diesem Tag auf die Friedhöfe gehen, wollen sie besonders nahe bei denen sein, die sie in ihren Familien vermissen und deren Platz nun leer bleibt. Es ist viel Erinnerung, Schmerz und Liebe in den Gefühlen, die Menschen an diesem Tag bewegen. In der Trauer über den Tod kommt die Liebe zurück, die wir im Leben einander gegeben haben. Das macht es schwer, gerade da, wo wir einander so viel bedeutet haben.
Es ist auch ein Tag, an welchem uns bewusst ist, was nun nicht mehr wird. Weil die Zeit vergangen ist, die uns gemeinsam geschenkt war. Vorbei sind die Dinge, die wir vielleicht noch miteinander tun wollten. All die Momente, welche wir verpasst haben. All die Worte die wir einander sagen wollten. Wir sind gefangen. Es hilft nicht zu entschleunigen, Auszeiten zu nehmen. Die Zeit rinnt wie Sand durch unsere Hände und steht am Ende als das Vergangene nicht mehr erreichbar vor uns wie eine Mauer. Nichts scheint uns aus unserer Traurigkeit zu befreien. Zu viel ist nicht gesagt, zu viel ist nicht getan, zu viel ist endgültig vorbei. Ich wünsche mir, dass es einen Ort gibt, der all das auffängt, was mir aus den Händen rinnt. Wo das aufgehoben ist, was ich nicht geschafft habe. Wo meine Zeit nicht stirbt. Sehnsucht nach Erlösung ist das, wonach mein Herz verlangt. Erlösung ist ein altes Wort, dass wie ein Licht leuchtet. Wir gebrauchen es kaum noch. In unseren Kirchen beten wir es: „Erlöse uns…“.
Die Bibel redet ganz behutsam von diesen Dingen. Von der Ewigkeit, die ihren Schein schon in unsere Welt wirft. Davon, dass die Wand zwischen unserer Zeit und der Zeit, die nicht vergeht, dünn ist. Dass es nicht viel ist, was uns von denen trennt, die wir nur noch zu erinnern meinen. Manchmal fühlen wir etwas von dieser Nähe. Es sind Momente, die uns wertvoll sind. Momente, die uns tief berühren. Wenn wir frei sind, nicht mehr gefangen in der Zeit, vereint mit den vor uns Gegangenen, dann werden wir sein wie die Träumenden, dann wird unser Mund voll Lachens sein, dann werden wir alles sagen, was nicht gesagt war. Manchmal träumen wir davon schon jetzt. Das ist gut, weil es uns etwas zeigt, was jenseits unserer üblichen Vorstellung liegt.
Zeit wird wertvoll schon jetzt, wenn wir sie verschenken. An die, welche mit uns leben. Dann wird sie langsam. Geben Sie dem Menschen, den sie lieben einen Kuss. Fühlen sie, wie sie stehen bleibt. Die Zeit, die sie verschenken.
Michael Wegner