09.10.2017
Prophetenbrille
Leih mir deine Brille, Prophet! Hej, Jesaja, leih mir deine Brille!
Weil: Ich kann nicht sehen, was du schon siehst!
Taube hören, Blinde sehen, sagst du?
Die Ärmsten der Armen können sich freuen?
Bei mir sieht alles so anders aus. Verschwommen im Sorgen-Nebel-Grau. Keine Linien, keine Farben.
Ich sehe die Flaschen in der Tasche von Marvin und sein leeres Gesicht und er ist ja erst 17 und es gibt doch so viele wie Marvin! Und manche davon wollen das Leben wegschmeißen und die Liebe vergessen.
Und ich sehe Frau Schmitt mit dem weißen Stock über die Straße laufen und die Bremsen quietschen und jemand brüllt noch: Mensch, dann bleib doch zu Hause! Und ich weiß, wie sie das kränkt, die Ärmste, und wie sie kämpft mit den Tränen und mit ihrem Schicksal!
Zig Millionen Blinde gibt es auf der Welt, Jesaja. Die meisten sind blind, nur weil sie so arm sind, bitterarm. Ich kann nicht sehen, was du siehst!
Ein Ende mit den Tyrannen, sagst du?
Kennst du nicht unsere Experten und ihre Machtspiele auf fremde Kosten? Denen sind arme Leute egal. Ein Ende mit den Tyrannen?
Prophet, deine Brille ist echt schräg, weißt du? Und trotzdem – ich hätte sie gern. Wenigstens für einen winzigen Moment. Für diesen anderen, weiteren Blick:
Ein Ende mit den Tyrannen…
Taube hören, Blinde sehen, die Ärmsten der Armen können sich freuen…
Dieser Blick tut so gut. Er lässt mich sehen, was du schon siehst: Das Leben ist schön. Und die Liebe bringt uns weiter dahin, wo das Glück in Gottes Namen für alle da ist.
Eine gute Nacht und morgen einen hoffnungsvollen Blick
wünscht Angela Fuhrmann,
evangelische Pfarrerin in Gotha