25.10.2022
Gedanken beim Spazierengehen
Kein Frühling vergeht, ohne dass ich dieses Bild im Kopf hab’, wie ein junger Mensch mit wehenden Haaren ein blaues Band in die Luft hält. Es flattert im Wind. Das sehe ich vor mir, seit diesem Frühlingsgedicht in der Schule: „Er ist’s“. Vom Herbst fehlte mir so ein Bild. Bis ich auf das Gedicht „Oktober“ stieß. Erich Kästner schreibt darin: „Fröstelnd geht die Zeit spazieren.“ Da stelle ich mir vor: eine Dame mit Kopfbedeckung, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Kästner schreibt: Sie geht an bunten Bäumen vorbei. Wie Blumen für Riesen sehen die aus. Trotzdem weiterlaufen – wir an der Seite der Zeit, schreibt Kästner. Nicht als hätten wir uns verirrt, sondern stramm. Nicht umkehren, auch wenn die Blätter „ihre letzten Menuette“ drehen. Sie fallen immer noch „sterbensheiter“. Wir sollen „den Herbst nicht dafür büßen lassen“, dass es Winter werden wird. Der Weg ist doch nicht schuld am Ziel! Sondern „das Jahr ist dein Gesetz“. Wo es neblig ist jetzt, wird‘s auch wieder klar – wenn das Frühlingsband anfängt zu flattern. Bis dahin weiterlaufen, schreibt Kästner. Die Zeit weiß schon, wohin es geht. Im Gedicht die letzte Zeile: „‚Stirb und werde!‘, nannte er’s.“ Ein „er“ kommt sonst im ganzen Gedicht nicht vor. Aber „er“ ist Gott, denke ich mir. Und er hat eingerichtet, für die Natur und für uns, dass nach Herbst und Winter, dass nach dem Sterben ein Wieder-Aufblühen kommt. Daran halte ich mich fest.
Dass Sie diesen Herbst etwas Schönes entdecken, wünscht Milina Reichardt-Hahn, evangelisch und Pfarrerin in Fambach